Wie fühlt es sich wohl an, in einem Armenviertel zu leben? Diese Frage habe ich mir vor meinem Auslandsaufenthalt oft gestellt, mir aber nie beantworten können. Man kann sich ein solches Leben eben nicht ausmalen. Um die Antwort zu bekommen, muss man es gezwungenermaßen selbst erleben. Ich spreche dabei nicht von einem Armenviertel aus einem amerikanischen Film- mit Gangstern und Straßenschlachten, sondern vom Chipata Compound in Lusaka. Hier werden keine Schießereien auf der Straße ausgetragen. Dafür gibt es andere ernste Probleme, die man hier Tag für Tag bekämpfen muss. Vor allem wird man hier konfrontiert mit den Herausforderungen einer heranreifenden Metropole.

 Innenstadt Lusakas, Cairo Road.

Lusaka ist eine sehr facettenreiche Stadt. Neben Hochhäusern und dem belebten Straßenleben trifft man auf viel Grün. Kein Wunder wird sie auch „Gartenstadt“ genannt. Im Stadtkern und einigen Stadtvierteln sind riesige Anwesen, luxuriöse Einkaufszentren und wohlhabende Apartments. Gut vernetzt stellt sie das Zentrum Zambias dar. Es gibt einen internationaler Flughafen, Eisenbahnstrecken und Autobahnverbindungen. Man kann von hier aus überall hin. Sei es, um auf Safari zu gehen, oder um Sightseeing in der Stadt selbst zu betreiben. Alles was das Herz begehrt, oder?

Entfernt man sich etwas vom Zentrum, sieht man jedoch ein ganz anderes Gesicht: die Kehrseite der besonders schnell wachsenden Stadt. Denn mit der zunehmenden Wirtschaftskraft bleiben viele Leute auf der Strecke liegen, nur wenige profitieren richtig vom Boom. Der Wert der Einkommensverteilung im Gini-Index liegt bei 55%, welcher ein hohes Ungleichgewicht von Löhnen markiert. Es herrscht ein klares Gefälle von Stadtzentrum zu Randgebieten. Vorzufinden ist aber auch eine direkte Disparität innerhalb und zwischen den einzelnen Stadtvierteln. Ein Beispiel hierfür ist ein riesiges Wohngebiet mit leerstehenden, großen Anwesen. Diese sind als Zuhause für wohlhabendere Menschen vorgesehen. Auf der anderen Straßenseite leben derweil die Bewohner des Chipata Compounds in einfachsten Verhältnissen.

 Auf der einen Straßenseite Slum und auf der anderen unzählige leerstehende Häuser. Leerstehende Häuser gegenüber von Chipata Compound.

Mit einer Wachstumsrate von 4,9% (Stand 2010) und einer stetig ansteigenden Bevölkerungsdichte (momentan von ca. 5000 Einwohnern pro Quadratkilometer), ringt die Stadt mit demographischen Veränderungen. Einerseits wird das Bevölkerungswachstum durch die Totale-Fruchtbarkeits-Rate (TFR) von ca. 4.4 Kindern pro Frau stark beeinflusst; andererseits ist es auch auf den starken Zustrom von Menschen aus ländlichen Gegenden zurückzuführen. Denn die Stadt wirkt sehr attraktiv auf Jobsuchende oder Leute mit Hoffnung auf ein „besseres Leben“. Aber was hat das Ansteigen der Bevölkerung für Probleme zur Folge?

Es gibt vielseitige Auswirkungen dieser demographischen Veränderungen. Marginalisierung ist ein zentrales Stichwort – in vielen Teilen der Stadt ist dieses Phänomen vorzufinden. Etwa 1,4 Millionen von ca. 2,4 Mio. Einwohnern leben in umgangssprachlich als „Slums“ bezeichneten Armenvierteln. Diese entstehen, da die Infrastruktur der Stadt die täglich hinzukommenden Menschenmassen nicht richtig auffangen kann. Diese sogenannten „Slums“ sind also Fußabdrücke des Systems. 

Stadt bereits in der Vergangenheit kein nachhaltiger Plan steckte. Die explosive Expansion der Hauptstadt folgte keinerlei Strukturen, sodass dem Zuwachs an Gebäuden und Einwohnern bis heute der roten Faden fehlt. Die Grundstückverwaltung der Stadt scheint gegen das informelle „Wuchern“ machtlos zu sein. Wohl auch aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen und Personalmangel. Deswegen kommt es vor, dass Menschen sich auch weiterhin einfach freie Flächen suchen, um auf diesen ihre Häuser zu bauen. Und das ohne jegliche Genehmigung.

Die Folge ist eine zunehmend komplexe und unübersichtliche Stadtstruktur, mit augenscheinlich wahllos platzierten Gebäuden. Diese spiegelt sich auch schon im kleineren Maßstab- und damit im Aufbau einzelner Wohngegenden- wider. Ein Beispiel hierfür ist Chipata, wo ca. 190.000 Einwohnern auf engstem Raum leben.

 Repräsentative  Straße im Compound, vor St. Paul’s Parish.

Das richtige Vorgehen zur Problemlösung ist sehr komplex. Schließlich wird die Situation auf keinen Fall durch den Abriss von Häusern verbessert. So würden zu viele Menschen das Dach über dem Kopf verlieren. Bewohnern, die unverschuldet in eine solche Situation geboren, gedrängt oder sogar gezwungen wurden, sollte vielmehr Unterstützung gewidmet sein.

 Durch die fehlende Grundstruktur stößt die großflächige Versorgung von Strom und Wasser auch an ihre Grenzen. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist in manchen Compounds nur durch Hilfsorganisationen (z.B. The American People) zu sichern. Diese errichten Trinkwasserstationen, um die Menschen mit genügend Wasser zu versorgen.  Das Stromnetzwerk ist für die Mehrheit zwar gut zugänglich, jedoch kommt es häufig zu unangekündigten Stromausfällen. Diese können unvorhersehbar lange dauern. Jedoch erfährt man über das Jubeln der Leute schnell, wenn der Strom wieder zurück ist.

 Wasserversorgungsstation von „The American People“.

 Spielende Kinder an einer Wasserstelle inmitten des Compounds.

Vor allem in den marginalen Räumen der Stadt gibt es noch keine etablierte Müllentsorgung. Die Kirche hat das Jahr 2018 zwar dem Motto „Year of the Environment“ gewidmet – aber vielerorts scheint diese Forderung kaum zu fruchten.  Man sieht an jeder Ecke Müll, meist in Form von Plastiktüten und -flaschen. Gerade durch den Platzmangel gibt es noch keine effektive Lösung, um das „Müllproblem“ großflächig zu beheben. Immerhin versuchen manche Leute sich zu helfen, indem sie den eigenen Müll vor der Haustüre oder auf Sammelstellen verbrennen. 

 Verbrennung von Müll auf der Straße in Chipata.

Die gesamte Situation birgt viele Gefahren. Laut den Schwestern des Chipata Compounds war der Müll eine der Hauptursachen für die Cholera-Epidemie im Oktober 2017, die ganz Lusaka betraf. Keime, Krankheitserreger und Viren können sich perfekt im Abfall ansammeln. Wenn der Müll dann mit dem Trinkwasser in Berührung kommt, wird die Verbreitung solcher Krankheiten enorm gefördert. Offiziell gab es 5,900 bekannte Fälle von Infizierten und 114 gemeldete Tote. Man spricht hierbei bewusst von „bekannten Fällen“, da es im informellen Sektor vermutlich weitaus mehr Betroffene gab.  Müll am Strassenrand in Chipata.

Zusammenfassend ist die Infrastruktur und die Marginalisierung wohl die auffälligsten Kernprobleme. Sie lassen sich als schwierige Herausforderungen betrachten; vor allem für eine Regierung, die am meisten mit sich selbst zu kämpfen hat. Zumindest ist dies der Eindruck der Leute,  mit denen ich geredet habe. Nach diesen Gesprächen und meinen zusätzlichen Recherchearbeiten  schaue ich viel kritischer auf die hier herrschenden Umstände. Viele Probleme sind einem zwar im Vorhinein bekannt, jedoch in ihrem tatsächlichen Ausmaß nur wenig bewusst gewesen. Und natürlich bleiben meine bisher gewonnenen Eindrücke unvollständig. Nach einem Monat im Chipata Compound lassen sich nun mal nicht alle Herausforderungen Lusakas benennen. Es gibt bestimmt noch ganz andere Probleme, die in Angriff genommen könnten.

 Zum Schluss möchte ich anmerken, dass man sich hier trotzdem sehr schnell sehr gut aufgehoben fühlen kann. Und ich bin bereits gespannt auf alles, was noch kommen mag.

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